Ein Blick ins E-Buch
Lesen Sie das Kapitel zum Tempel Nr. 2, Kimii-dera:
Woodstock fällt ins Wasser

Die Erwartungen, die wir mit dem Zwei-Tages-Ausflug zum Tempel Kimii und der Küstenstadt Wakayama verknüpften, waren bunt. Die Geschichte lockte mit Erkenntnissen über das untergegangene Reich der Ki, wundersamen Quellen und pfiffigen Händlern. Reiseführer priesen die Gegend als 1-A-Urlaubsparadies an, einer versprach gar das japanische Woodstock. Außerdem gäbe es eine Samurai-Burg, einen Jachthafen sowie eine prominente Nudelsuppe mit Talkshow-Karriere. All das gab es und doch stand etwas Farbloses im Mittelpunkt, nämlich Wasser.

Gleich zu Beginn stimmte uns der Regen ein. Wir stiegen wie geplant an einer kleinen Bahnstation aus, ein paar Kilometer weit weg, aber mittendrin von allem: vom Zentrum, vom Tempel und von einer ominösen Vergnügungshalbinsel am japanischen Binnenmeer. Unser Plan sah vor, auf einem Rundweg alles mitzunehmen. Was war da schon ein bisschen Regen?

Wir brachen in Richtung Küste auf und wanderten querfeldein auf ein altes Wohnviertel zu. Die traditionellen Holzhäuschen und der Tempel am Straßenrand hatten schon bessere Zeiten erlebt. Etliche Wohnhäuser waren seit einiger Zeit aufgegeben und standen leer. Zwar gab es gelegentlich Bauern und Händler, die ihre Produkte in den überdachten Straßenzügen anboten, aber Käufern begegneten wir nicht. Das Viertel versprühte den Charme eines verstaubten Schwarzweiß-Filmes, der trotz Kratzern und Rissen geeignet war, seine Zuschauer in Bann zu ziehen. Ja, so mag Japan einmal gewirkt haben, als das Bau-Chaos noch nicht dominierte, als sich Leitungskabel nicht wie Spinnennetze über die Häuser spannten und die Welt noch geordnet war. Wie zur Bestätigung nahmen Wind und Regen an Wehmut schwangerer Schärfe zu, als wir das alte Wohnviertel verließen.

Klitschnass und halb erfroren erreichten wir das andere Ende der Welt, das, nur kurze zwei Kilometer entfernt, an einer langen Seebrücke begann. Dort lag ein Jachthafen mit glitzernden Hochhausfassaden, kitschigen Hochzeitskapellen, Schönheitssalons und Wohlfühl-Hotels. Dann entdeckten wir Europa. Europa mit pastellfarbenen Fachwerkhäusern und venezianischen Gondeln auf dreihundert Quadratmetern als Vergnügungspark und Flitterwochenziel mit Mittelmeerflair. Vielleicht war nicht Saison oder das Wetter zu schlecht, denn auch Europa lag verlassen vor uns. Nur in der obligatorischen Passage mit Andenkenläden und Speiselokalen trafen wir auf Leben. Rüstige Rentner hatten sich staunend um einen Meisterkoch geschart, der einen Riesenthunfisch fachgerecht in Sushi-Stücke zerlegte. Es gab viele Stände mit Mandarinen und Mandarinenprodukten wie Marmelade, Desserts und allerlei Süßigkeiten. Immerhin ist der Bezirk Wakayama Hauptanbaugebiet dieser Winterfrüchte. Wer die Tradition einführte, verriet uns später die Tempelgeschichte. Nachdem wir uns aufgewärmt hatten und unsere Kleidung einigermaßen trocken war, fuhren wir mit dem Stadtbus weiter zum Tempel. Auch im Bus saßen wir allein.

Der Kimii-dera schmiegt sich an einen Berghang. Gleich nach dem Toreingang geht es eine steile Treppe hoch, die einen eigenen Namen hat: Kechien-Zaka. Zaka bedeutet Abhang und kommt im Namen der Stadt Osaka vor, die mit „großer Abhang“ übersetzt werden kann. Kechien wiederum ist ein buddhistischer Sammelbegriff und beschreibt alles Tun, um ein Buddha zu werden. Die Treppe des Kimii-dera ist folglich eine Nirwana-Stiege.

Auf ihr begann das Glück des Pilgers BUNZAEMON KINOKUNIYA, der von 1669 bis 1734 lebte. BUNZAEMON, der seine Mutter huckepack trug, stolperte seinerzeit auf der Treppe. Es folgten Hochzeit, Reichtum und Unsterblichkeit. Doch der Reihe nach: Der Tempelbesuch BUNZAEMONS fing damit an, dass der Riemen seiner Sandale riss. Aber die Tochter eines Priesters eilte flott herbei, half Mutter und Sohn, und die Romanze begann. Als sie heirateten, gewann BUNZAEMON einen wohlhabenden Kapitalgeber, denn der Priester des Tempels war kein Bettelmönch. Der tüchtige Schwiegersohn stieg schon bald darauf in den Schiffshandel mit Edo ein, einem Fischerdorf, dass sich später zur Hauptstadt der Popkultur entwickeln und unter dem Namen Tokyo bekannt werden sollte. BUNZAEMON handelte Mandarinen gegen gesalzenen Lachs.

Als eines Neujahrs wegen anhaltender Seestürme die für religiöse Zeremonien begehrten Mandarinen knapp wurden, schoss ihr Preis in die Höhe. Die Stunde von Geschäftsleuten mit Faible für Risiko schlug, und BUNZAEMON ging es ein. Er belud sein Schiff mit Früchten und fuhr dem Unwetter entgegen. Das Glück war ihm hold und das Schiff erreichte Edo mit voller Ladung. BUNZAEMON gewann ein Vermögen, was ihn zum bekanntesten Kaufmann der japanischen Geschichte machte. Seine Bekanntheit wuchs zudem wegen dieser oder jener Extravaganzen. Es heißt, dass er täglich die Reisstrohmatten in seiner Unterkunft auswechseln ließ und zum Fest des Winteraustreibens statt mit Bohnen mit Geldstücken um sich warf. Den meisten Japanern ist BUNZAEMON KINOKUNIYA auch heute ein Begriff. Eine der größten Bücherketten Japans, das Verlagshaus Kinokuniya, hat sich nach dem tüchtigen Kaufmann benannt. Und all dieses Glück begann stolpernd auf der Treppe im Kimii-dera.

Entsprechend optimistisch stiegen wir die Stufen hinauf. 33 Stufen zählt der erste Absatz, 42 der zweite und 60 der dritte. Insgesamt sind es über 200, und die Einteilung der Absätze ist kein Zufall. 33 und 42 gelten als die brenzligen Jahre von Frauen und Männern. Wer dagegen 60 überschritt, war gesegnet, das Leben in seinem vollem Umfang genießen zu können.

Auf halber Höhe der Treppe sprudelt eine der drei Quellen, die dem Tempel seinen Namen geben. Kimii-dera – Tempel der drei Quellen im Land der Ki, eine einstmals einflussreiche Provinz. Dem Quellwasser wird Heilkraft zugesprochen, und tatsächlich gehört es zu den hundert saubersten Japans, was ein amtliches Qualitätssiegel an Ort und Stelle beglaubigt.

Wasser spielt und spielte im Leben der Inselbewohner eine große Rolle, wobei der Wasser- und Reinlichkeitskult gelegentlich ausufern kann: etwa dann, wenn Straßen und Eingänge zu Geschäften regelmäßig mit Trinkwasser geflutet werden, was uchimizu (Straßenwasser) genannt wird. Im Kontrast dazu lautet das japanische Wort für eine sinnlose Diskussion mizukakeron, womit wortwörtlich eine Diskussion gemeint ist, die nur Wasser verspritzt und nicht wirklich erfrischend ist. Nicht missen möchten wir dagegen die feuchten Tücher, die in Kneipen oder Restaurants gereicht werden. Gerade im schwülen Sommer sind sie eine Wohltat, ebenso wie die vielen kleinen Kanäle und Rinnsale, die Gassen und Straßen entlang plätschern.

Am Ende der Treppe erreichten wir einen großen Platz, wo sich der Tempel, ein Schatzhaus mit Ausstellungsstücken und eine Aussichtsveranda befinden. Graue Regenwolken zogen über Ozean und Häusermeer. Nur schemenhaft tauchten die steilen, dennoch abgerundeten Kuppen der ufernahen Berge auf. Abgesehen vom Regengeräusch war es still, denn Möwen und Kormorane warteten in ihren Verstecken das Ende des stürmischen Wetters ab. Doch der Anblick der Bucht Waka-no-Ura war auch jetzt reizvoll. Ihre Schönheit ist schon im 5. Jahrhundert von einer Prinzessin, der späteren Göttin für Poesie, besungen worden. Ein ihr gewidmeter Schrein soll irgendwo in der Nähe liegen. Auf dem Rückweg kamen wir an einem Brückengeländer vorbei, an dem einige ihrer Gedichte angebracht waren.

Im Tempel neben der Haupthalle des Kimii-dera zog uns eine Wind und Wetter ausgesetzte Holzstatue in ihren Bann. Auf der nackten, im Schneidersitz hockenden Figur, waren zahlreiche bunte Lappen angeknotet, Besucher hängten regelmäßig neue hinzu. Dabei rieben sie zunächst über die Knie der Statue, weshalb diese bereits wie poliert glänzten. Dann berührten die Leute ihre eigenen Knie. Später lasen wir nach, dass die Statue Binzuru, einen der ersten Jünger Buddhas, verkörpert. Der an Reiki, die heilende Kunst des Handauflegens, erinnernde Ablauf soll die berührten Körperstellen stärken und gesunden lassen.

Nach all dem Wind und Regen sehnten wir uns nach einem wohligen Bad und wanderten zu unserer Herberge im Nordwesten der Stadt. Die Unterkunft entpuppte sich als eine klotzige Bettenburg. Wieder waren wir die einzigen Gäste im Reiseland Wakayama.

Eine Zeit lang hingen wir im heißen Wasser des japanischen Bades unseren Gedanken und den Eindrücken des Tages nach. Danach schlüpften wir in die bereitgelegten Kimonos und gingen in den leeren, recht altmodischen Speisesaal. Dort wartete allerdings ein liebevoll zubereitetes Abendessen aus frischem Fisch und regionalen Köstlichkeiten, wie salzig eingelegten Pflaumen. Während wir aßen, krachte draußen die Brandung gegen die Felsen, und der Himmel schien sein Herz auszuschütten – vielleicht gedachte er betriebsamerer Zeiten.

Zurück im Zimmer machten wir es uns auf den ausgerollten Futons gemütlich und schmökerten in den Geschichten zum Tempel. Bald fragten wir uns, ob es nicht der Herrscher des Meeres war, dem nach Gesellschaft verlangte und der Wind und Wetter aufbrausen ließ. Womöglich war es sein Reittier, ein Wasserdrache, der draußen durch das Wasser schnellte, um den Mönch IKKŌ SHŌNIN aufzustöbern. Denn vor 1.300 Jahren soll dieser dem Drachen auf den Grund des Meeresbodens gefolgt sein, um den einsamen Unterweltler mit buddhistischen Weisheiten zu unterhalten. Reich beschenkt, kehrte der Mönch nach einiger Zeit zurück an die Oberfläche. Die Gaben – Tempelglocke, Priesterstab und andere wertvolle Zeremoniengegenstände, so sagt man, fanden ihren Platz im Schatzhaus des Kimii-dera. Unter den Geschenken waren auch sieben Kirschbaum-Setzlinge, die der Mönch in der Nähe des Tempels der Legende nach eingepflanzt haben soll. Bis heute wuchs ihre Zahl auf etwa siebenhundert an. Die Kirschbäume des Kimii-dera sind die ersten, die in der Region Kansai zu blühen beginnen. Ihre Pracht lockt dann sicherlich auch Scharen von Besuchern nach Wakayama.

Auszug aus dem Kapitel: Poesie, Wissenshappen und Reisehinweise

2. TEMPEL: Kimii-dera

紀三井寺 – Tempel der drei Quellen im Land der Ki

Es ist soweit bis nach Haus'.
Doch hier im Tempel Kimii
scheint die Hauptstadt der Blumen
näher.

Die Tempelgeschichte lockt mit Erkenntnissen über das untergegangene Reich der Ki, erzählt von wundersamen Quellen und pfiffigen Händlern. In der Stadt Wakayama, wo sich der Tempel befindet, gibt es außerdem eine sehenswerte Samurai-Burg und einen Jachthafen. Zur Zeit der Kirschblüte ist der Tempelbesuch besonders empfehlenswert.

Der Kimii-dera gehört zu einer lokalen Sekte. Sein Hauptbild ist ein elfköpfiger Kannon (Jūichimen-Kannon). Der Tempel liegt im Süden der Stadt Wakayama. Die genaue Adresse lautet 和歌山県和歌山市紀三井寺 1201. Telefonische Auskunft erhält man unter der Nummer 073-444-1002. Der Tempel ist das ganze Jahr über von 8-17 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 300 Yen.

TEMPELFESTE

1.-3. Januar: Hatsumōde. Erster Tempelbesuch im neuen Jahr mit Gebeten für Familienglück, Verkehrssicherheit und ähnlichem. 3. oder 4. Februar: Setsubun. Feier zur Winterwende mit Zeremonie des Bohnen-Werfens. 20. März – 20. April: Kirschblütenfest. 7. Juli: Tanabata. Sternenfest und Gionfest mit Gesang und Glückslotterie von mittags bis abends. 15. August: O-Bon Festival. Gedenkfeier für die Verstorbenen. Laternen schmücken das Tempelgelände und ein zeremonielles Feuer wird angezündet. Von mittags bis abends. November (9. Tag des 9. Monats im Mondkalender): Kiku no sekku. Tag der Chrysantheme. Fürbitte gegen Krankheit und Schmerz. Man opfert Blumen.

ANREISE

Mit den Zügen der JR Hanwa Rapid Line fährt man zunächst vom Bahnhof Tennoji nach Wakayama. Die Fahrzeit beträgt 61 Minuten. Hier wechselt man in die Lokalzüge der JR Kinokuni Line. Nach 7 Minuten erreicht der Zug den Bahnhof Kimii-dera, von wo es zu Fuß noch 9 Minuten bis zum Tempel sind.