Kirschblüten als Fieberthermometer

Die Beschau der ehrenwerten Kirschblüte, O-Hanami, ist einer der Exportschlager Japans. Der Adel Japans ergötzt sich schon seit mehr als eintausend Jahren an den hübschen Blüten der Bergkirsche wie man aus historischen Aufzeichnungen und Tagebüchern weiß. Spätestens mit den prächtigen Feierlichkeiten anlässlich der alljährlichen Kirschblüte unter Kanzler Toyotomi Hideyoshi Ende des 16. Jahrhunderts wurden sie auch in der breiten Bevölkerung populär. Da konnten die Politikstrategen im 19. Jahrhundert prima anknüpfen, um die Kirschblüte zum bisweilen überstrapazierten Nationalsymbol Japans zu erheben.

Bild 1: Tänzerin zum Kirschblütenfest in Kleidung aus der Heian-Zeit (794-1182)

Interessant ist die Kirschblüte noch aus einem ganz anderen Grund: Dank der historischen Aufzeichnungen gibt es nämlich eine sehr lange Datenreihe darüber, zu welcher Zeit im Jahr die Kirsche jeweils voll erblüht war. Der Zeitpunkt der Kirschblüte wird übrigens hauptsächlich durch die mittlere Temperatur im März bestimmt. Damit kann aus den Daten über die Kirschblüte wiederum auf die Temperaturentwicklung im Frühling geschlossen werden.

Bild 2: Historische Kirschblüten-Parade im Tempel Daigo: Kanzler Hideyoshi wird zum Festplatz getragen

Prof. Yasuyuki Aono und sein Kollege Yukio Omoto von der Präfekturuniversität Osaka haben sich das genauer angeschaut und in alten Archiven gekramt. Sie wurden in Gedichten und Aufzeichnungen fündig. Nachdem sie sich in die alten Schriftzeichen eingelesen und die alte Art der Datumsaufzeichnungen auseinanderklammüsert hatten, konnten sie auf einen stolze Datenreihe blicken, die sage und schreibe im 11. Jahrhundert beginnt. Für den Zeitraum zwischen dem Jahr 1476-1553 gibt es sogar jährliche Einträge. Ein Glücksfall für die Wissenschaft, denn man kann daran lokale Klimaänderungen verfolgen. Die Bohrkerne, die sonst dazu herangezogen werden, stammen zumeist vom Eis aus Grönland.

Bild 3:Wann blühte die Kirsche vor 1000 Jahren bis heute? Quelle der Daten: Forschungsarbeit von Aono und Omoto, 1994.

An der Abbildung sieht man zunächst, dass der Zeitpunkt der vollen Kirschblüte jährlichen Schwankungen unterliegt: Die Kirsche blüht in einigen Jahren bereits Ende März, in anderen wiederum erst Ende April. Seit 1900 kann man einen Trend zu einer deutlich früheren Kirschblüte in Kyoto und Umgebung erkennen. Die daraus berechnete mittlere Temperatur im März schwankt zwischen 4 und 8 °C. Es gibt durchaus längere Warmphasen, zum Beispiel im frühen 13. Jahrhundert. Seit dem 19. Jahrhundert ist jedoch ein stetiger Temperaturanstieg zu verzeichnen. Ein Beweis für den einsetzenden Klimawandel?

Ja und nein. Zunächst einmal sind die Daten noch verzerrt, da die Stadt Kyoto mit der Zeit stark gewachsen ist, vor allem während der vergangenen einhundert Jahre. Der Trend zur Urbanisierung sorgt generell für höhere mittlere Temperaturen. Dieser Hitzeeffekt der Verstädterung kann jedoch rausgerechnet werden, indem die Blühdaten an zentrumsnahen Stellen mit solchen am Stadtrand verglichen werden. Auf diese Weise sind 2.8°C von 3.4°C abzuziehen. Im Ergebnis bleibt ein Erwärmungstrend übrig: die mittlere Temperatur im März ist seit 1840 um 0.6°C gestiegen.

Quelle: Y. Aono, Y. Omoto: Estimation of Temperature at Kyoto since the 11th century using flowering data of cherry trees in old documents. Journal of Agricultural Meteorology, 49, 263-272, 1994.